Das Kaloriendogma

Zuerst sollte ich mich bei einem guten Freund von mir entschuldigen: Lieber Karsten*, du hattest Recht. Ich habe mich geirrt. Aber es war mehr als einer bloßer Irrtum. Ich habe dir gegenüber eine falsche „wissenschaftliche Überheblichkeit“ an den Tag gelegt, und das tut mir Leid. Es ging um folgendes, eine einfache Frage: Ist es ungünstig, wenn man – wie ich es früher immer tat – spät am Abend die größte Speise des Tages zu sich nimmt? Wenn man sich kurz vorm Schlafengehen nochmal so richtig die Wampe vollschlägt? Machen die Kalorien zu diesem Zeitpunkt besonders fett? Es war vor einigen Jahren, ich war soeben ausgezogen, um mich auf eine längere Recherchereise in die Welt der Ernährungsforschung zu begeben, als mein Freund Karsten mir diese Frage vorlegte.

Meine Antwort war klar, sie folgte dem konventionellen „Kaloriendogma“, vertreten von vielen Ärzten und Vereinen, wie zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Demnach ist es vollkommen egal, wann man seine Kalorien zu sich nimmt. Hauptsache, man verzehrt nicht mehr, als man verbrennt. Dies ist simple, unumstößliche Physik (erster Hauptsatz der Thermodynamik: Energie kann in diesem Universum nicht einfach so verloren gehen). Jeder, der das anzweifelt, ist schlichtweg uninformiert, blöd oder ein Scharlatan.

Aber hier kommt die Ironie, mit der mich meine jahrelange Recherche nach und nach konfrontierte: Uninformiert ist vielmehr derjenige, der – wie ich anfangs – glaubt, fürs Gewichthalten und Abnehmen käme es in erster Linie aufs Kalorienzählen an. Was leider viele tun, manchmal zweifellos auch mit Erfolg (meist eher kurzfristig), oft genug aber mit tragischen Konsequenzen. Gerade in gebildeten Kreisen gilt ja nach wie vor „Frissdiehälfte“ oder FDH als der einzig seriöse Diätansatz. Sie wollen abspecken? Kein Problem! Sie müssen bloß weniger essen (weniger Kalorien rein) und sich mehr bewegen (mehr Kalorien raus). Dies ist ein bisschen so, als würde man einem Alkoholiker den gutgemeinten, aber sinnlosen Rat geben, er solle doch mal weniger trinken. Ach, das war das Problem, wirklich? Wer hätte das gedacht!

Auch beim Abnehmen ist die Praxis ist um einiges komplexer, als die Formel „Kalorien rein – raus“ nahelegt. Nehmen wir folgenden Versuch von Forschern des angesehenen Salk Institute in San Diego. Es gab zwei Mäusegruppen, beide vom gleichen genetischen Stamm. Beide Gruppen wurden wochenlang mit dem gleichen Junkfood gemästet. Aber nicht nur war das Futter gleich, nein, die zwei Mäusegruppen aßen darüber hinaus gleich viele Kalorien (außerdem bewegten sie sich ähnlich viel). Es gab nur einen Unterschied: Die Mäuse der ersten Gruppe durften rund um die Uhr naschen. Der zweiten Gruppe stand das Junkfood lediglich 8 Stunden in der Nacht zur Verfügung – die restlichen 16 Stunden mussten die Tiere fasten (Mäuse sind nachtaktiv, auf uns Menschen übertragen hieße das also nur tagsüber innerhalb eines beschränkten Zeitfensters zu essen, und absolut keine Kühlschrankattacken bei Mondschein). Und jetzt kommt’s: Die Mäuse der ersten Gruppe wurden zusehends fett und krank. Die Mäuse der zweiten Gruppe blieben schlank und gesund.

Stellen Sie sich vor, Sie sehen im Schwimmbad zwei Personen, eine schlanke, eine dicke. Was würde Ihnen spontan durch den Kopf gehen? Vielleicht dies: Die dicke Person muss ja wohl ordentlich reingehauen haben (oder sie ist faul und bewegt sich nicht). Sprich, wer übergewichtig ist, muss dauerhaft mehr Kalorien eingenommen als „ausgegeben“ haben. Wir haben diese „Erklärung“ so oft gehört und – ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben – dermaßen verinnerlicht, dass uns alternative Ansätze gar nicht mehr in den Sinn kommen. Aber was wäre, wenn wir damit etwas Wichtiges übersehen? Wenn wir so genau wissen, was Übergewicht verursacht, warum dann nimmt die Übergewichtsepidemie immer weiter zu? Was, wenn es nicht oder nicht nur auf die Kalorien ankommt? Wenn es auch eine ausschlaggebende Rolle spielen würde, was wir essen oder wann? Das alles wäre nicht nur von rein theoretischer, sondern auch für die Praxis des Abnehmens von einiger Bedeutung. Höchste Zeit also, dass wir uns dem Kaloriendogma einmal Schritt für Schritt nähern, um zu sehen, was es damit auf sich hat.

Erstens erklärt das Dogma herzlich wenig. Dazu ein Vergleich. Warum ist Bill Gates so reich? Antwort: Weil er mehr Geld eingenommen als ausgeben hat. Ja, wie es scheint, hat er das wohl. Aber die eigentlich interessante Frage lautet doch, wie der gute Mann das bewerkstelligt hat. Oder, auf unsere Sache übertragen: Woher kommt es, dass manche von uns mehr Kalorien einnehmen als „ausgeben“? Und wie lässt sich dieser Prozess aufhalten und umkehren?

Bevor jetzt die Klugscheißerei mit der Thermodynamik wieder losgeht, eine Klarstellung. Es geht bei alledem nicht um den abwegigen Versuch, die Physik zu widerlegen. Es ist bloß so, dass die Biologie der Physik eine Schicht der Komplexität hinzufügt. Hier ist es wichtig, kurz daran zu erinnern, wie eine Kalorie überhaupt definiert ist. Man nimmt eine Essensprobe, sagen wir eine Erdnuss, und steckt sie in einen Stahlbehälter, der mit purem Sauerstoff unter Druck gesetzt wird. Nun muss man die Erdnuss nur noch mit Hilfe von Elektroden – einer Art Blitzschlag – entzünden. Der Stahlbehälter befindet sich seinerseits in einem Behälter mit Wasser, dessen Temperatur man misst. Je stärker sich das Wasser erhitzt, desto mehr Energie enthält unsere Essensprobe, desto „kalorienreicher“ ist sie. Eine Kilokalorie (vereinfacht „Kalorie“) ist nichts weiter als jene Menge Energie, die man braucht, um 1 Kilo Wasser (einen Liter) um 1 Grad Celsius zu erwärmen.

Sie sehen sofort das Problem, nicht? Einem Stahlbehälter ist es schnurzegal, wann man ihn mit der Essenprobe füttert – für ihn ist eine Kalorie tatsächlich stets eine Kalorie. Für einen biologischen Organismus, der sich in einem Jahrmillionen langen Prozess der Evolution an die Erdrotation und damit einen Tag-Nacht-Rhythmus angepasst hat, ist dies nicht der Fall. So weiß man heute: Tausende von Genen sind je nach Tages- und Uhrzeit unterschiedlich aktiv, zum Beispiel auch in der Leber. Grob übersetzt kann man sagen, dass die Leber am frühen Morgen eher auf eine Speise eingestellt ist, als tief in der Nacht. Die Folge ist, dass wir die Speise am Morgen – oder generell am Tag, was bei Mäusen eben die Nacht wäre – viel besser „wegstecken“ können.

Auch an der unwissenschaftlich anmutenden Weisheit, man solle frühstücken wie ein König, abends hingegen essen wie ein Bettler, ist etwas dran (aus reiner Kaloriensicht dürfte man den Tag genausgut, und dramaturgisch angenehmer, als Bettler starten, um ihn dann als König ausklingen zu lassen). Forscher der Uni Tel Aviv haben die Probe aufs Exempel gemacht. Übergewichtige Frauen wurden in zwei Gruppen geteilt. Alle bekamen eine Diät mit gleich vielen Kalorien verordnet, einziger Unterschied: Die erste Gruppe aß ein großes Frühstück und kleines Abendessen, bei Gruppe zwei war es umgekehrt (spärliches Frühstück, üppiges Abendessen). Das Resultat war eindeutig: Die Gruppe mit dem großen Frühstück verlor deutlich mehr Gewicht.

Wir brauchen natürlich dennoch eine mechanistische Erklärung. Schließlich können sich Kalorien nicht auf magische Weise in Luft auflösen. Was also passiert mit den Kalorien am Morgen? Inwiefern geht unser Körper zu diesem Zeitpunkt anders mit einer Mahlzeit um, als am Abend? Die Sache ist längst nicht geklärt. Erste Erkenntnisse jedoch weisen zum Beispiel darauf hin, dass es bei jenen Mäusen, die in einem beschränkten Zeitfenster von 8 Stunden in der aktiven Zeit des Tages essen, zu Veränderungen der Darmflora kommt, die unter anderem dazu führen, dass einige Kohlenhydrate der Speise schlicht nicht vom Körper absorbiert werden.

Eine weitere, vielleicht noch wichtigere Erkenntnis: Morgens in der Früh ist unser Körper besonders empfindlich gegenüber dem Hormon Insulin. Insulin wird nach jeder Speise ausgeschüttet. Das Hormon treibt Zuckermoleküle, die wir vom Essen verdaut haben und in unseren Blutkreislauf gelangen, vom Blut in unsere Körperzellen hinein (wo die Zuckermoleküle verbrannt oder gespeichert werden). Darüber hinaus speichert Insulin Fett. Da unsere Insulinempfindlichkeit am frühen Morgen am höchsten ist, verkraftet unser Körper Kohlenhydratbomben (zum Beispiel in Gestalt von Fruchtsäften, Brot oder Kartoffeln) dann am besten.

Im Laufe des Tages ändert sich das, die Insulinempfindlichkeit lässt nach. Abends verwandeln wir uns alle in eine Art vorübergehenden Diabetespatienten, der den aufgenommenen Zucker nicht mehr so schnell verarbeiten kann. Aus Sicht des Blutzuckerspiegels ist es am Abend so, als würden wir – bei objektiv gleicher Mahlzeitgröße – eine doppelt so große Speise zu uns nehmen. Der Körper muss weit mehr Insulin ausschütten, und da Insulin zur Fettspeicherung führt, nehmen wir jetzt mehr zu, als wenn wir die exakt gleichen Kalorien am Morgen zu uns genommen hätten.

Die verhängnisvolle Reduktion unseres Essens auf Kalorien betrifft nicht nur die Frage nach dem Timing unserer Mahlzeiten, sondern nicht zuletzt die Nährstoffe selbst. So hat die Fixierung auf Kalorien zum Beispiel auch zu jener fatalen Fettphobie geführt, die spätestens seit den 1980er-Jahren grassiert. Merke: Mit der Fettverteufelung kam die globale Übergewichtsepidemie erst so richtig in Fahrt! Und warum wurde Fett unter anderem verteufelt? Weil Fett der kalorienreichste Nährstoff von allen ist. Fett macht fett, lautete deshalb lange die Losung. In so manchem Diätratgeber hieß es sogar: Du kannst nicht fett werden, wenn du kein Fett isst.

Heute wissen wir, dass Nahrung uns weitaus mehr als bloße Kalorien liefert. Ein Teil der Fettsäuren, die wir zu uns nehmen, wird zunächst gar nicht verbrannt, um unseren Körper Energie zu spenden. Nein, diese Fettsäuren werden in unseren Körper eingebaut (der selbst ja recht fettreich ist, beispielsweise bestehen die Hüllen unserer Körperzellen weitgehend aus Fettsäuren).

Darüber hinaus hat man in den letzten Jahren noch eine bahnbrechende Entdeckung gemacht: Manche unserer Körperzellen sind eigens mit Sensoren ausgestattet, die ganz spezifisch auf die berühmten Omega-3-Fettsäuren reagieren, wie sie etwa in Walnüssen, Rapsöl, Lein- und Chiasamen, vor allem aber in fettigem Fisch, wie Lachs, Hering und Makrele vorkommen. Der biologische Vorgang ist spektakulär: Sobald eine Omega-3-Fettsäure an einen solchen Sensor andockt, setzt das in unseren Zellen eine biochemische Kaskade in Gang, die dazu führt, dass zahlreiche Gene an- bzw. ausgeschaltet werden. Was wiederum – in diesem Fall – schädliche Entzündungsprozesse herunterfährt. Anders gesagt, der Fisch, den wir verzehren, wird nicht lediglich verbrannt und in Energie umgesetzt, nein, er redet gewissermaßen in einer Molekularsprache mit unserem Körper und wirkt geradezu medizinisch.

Ironisch genug können die angeblich mästenden Fettsäuren über diesen Weg sogar beim Abnehmen helfen. Auch das Sättigungszentrum in unserem Gehirn nämlich, der Hypothalamus, ist bei Übergewicht mitunter entzündet. Wie eine entzündete Nase bei einer Erkältung nicht mehr viel reicht, so „riecht“ auch ein entzündeter Hypothalamus die Sättigungssignale des Körpers nicht mehr allzu gut: Nicht obwohl, sondern weil wir übergewichtig sind, sind wir ständig hungrig. Ist es nicht merkwürdig, dass man, obwohl der Körper über mehr als ausreichend Fettressourcen verfügt, immer noch hungrig sein kann? Wenn unser Sättigungszentrum die Speckröllchen aber gar nicht registriert, ist das nur logisch. Übergewicht kann so immer mehr Übergewicht nach sich ziehen. Omega-3-Fettsäuren tragen dazu bei, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem sie die Entzündung des Hypothalamus zurückfahren. Das Sättigungszentrum „riecht“ die Kalorien wieder, der ewige Hunger lässt nach. Mit anderen Worten: Gerade die kalorienreichen Omega-3-Fette können das Abspecken unterstützen.

Wir sollten uns von dieser engstirnigen Kalorienfixierung verabschieden, und stattdessen zu einem ganzheitlichen Blick zurückkehren, der die Lebensmittel als solche wieder ins Zentrum der Perspektive rückt. Wer das Richtige in der richtigen Art und Weise isst, bleibt mit recht hoher Wahrscheinlichkeit schlank, Kalorien hin oder her. Nebenbei gesagt, macht diese Betrachtungsweise auch viel mehr Spaß. Ich jedenfalls will mein Essen nicht berechnen, ich will es genießen. Ach so, übrigens, was die Sache mit dem späten Abendessen betrifft, handhabe ich es jetzt ähnlich, wie mein Freund Karsten: Ich esse in einem Zeitfenster von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends. Drei Stunden vorm Schlafengehen ist Schluss – ab da gibt es bei mir nur noch Wasser.

*Karsten Brensing, ebenfalls Wissenschaftsautor, zuletzt erschien sein Bestseller Das Mysterium der Tiere (Aufbau, 2017)